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Der Stuhl

 

Er steht wieder einmal allein in einem längst vergessenen Raum ... der Stuhl, auf dem sich viele niederliessen und hoffentlich noch manche Rast machen werden. Er denkt in diesen Momenten des Alleinsein an die Momente, in denen sich die Benutzer und Benutzerinnen auf ihm bequem machten, sich manchmal zwar über seine etwas hölzerne Art beklagten, doch im allgemeinen seine gute Form und seine Wärme begrüssten, gelegentlich sogar mit anerkennenden Worten schätzten. Doch irgendwann passte er nicht mehr zu seinen nach ihm Gekommenen, denn er sah ihnen in keiner Weise ähnlich. Er war einmal von anderen Seinesgleichen umgeben, doch die Zeit hatte gewirkt und die anderen waren in der Zwischenzeit in das Reich der Stühle gegangen und werden sich dort wohl kaum mehr seiner erinnern.

So wurde er aus dem Kreis der Stühle ausgeschlossen – oder wie vor allem die Benutzer zu sagen pflegen - entsorgt. Da diese aber nicht wussten, ob sie bei Gelegenheit seiner wieder bedürfen, haben sie ihn in eine Kammer des Vergessens geschoben – nicht ohne zu sagen, wie unwichtig er nun geworden ist, nur ein kleiner Benutzer strich ihm heimlich und vielleicht mit einer kleinen Träne in seinen Augen über die oft benutzte Sitzfläche – wie gut ihm das getan hat.

Nun aber fristete er ein Dasein zwischen vielen anderen nicht mehr geliebten Dingen – Dingen, deren Namen er nicht kannte noch deren Existenz er überhaupt je wahrgenommen hatte. Er lebte in einer oft lang anhaltenden Dunkelheit, die nur selten durch einen Benutzer durchbrochen wurde – nämlich dann, wenn dieser wieder einmal glaubte, in der Kammer der Vergessenen etwas zu finden, das er schon lange suchte.

Der Stuhl wurde aber nie gesucht. Doch eines Tages wurde die Türe geöffnet und eine Stimme sagte: «Heute brauchen wir noch einen Stuhl.» Und dieser jemand trat vor ihn hin und sah lange auf ihn herunter. Dessen Stimme sprach dann noch : «Ja da haben wir noch einen Stuhl. Zwar ist er nicht passend und in die Jahre gekommen, aber für diesen Anlass genügt er noch.»

So durfte der Stuhl noch einmal – und hoffentlich nicht zum letzten Mal – einen Benutzer oder vielleicht auch einen Benutzerin auf seiner Sitzfläche begrüssen. Das Herz des Stuhls pochte leise und voller Aufregung. Er genoss den Moment, noch einmal in bedeutender Wichtigkeit auftreten zu dürfen und war glücklich.

Wollen wir das Glück des Stuhls nicht stören, doch sollten wir wissen, dass der Stuhl danach auch in das Reich der Stühle gehen musste, denn er wurde fortan nicht mehr gebraucht, er passte einfach nicht mehr in die Welt der Benutzer.

Noch einmal aber kam der kleine Benutzer und strich ihm sanft über die Lehne. «Danke, dass ich dich kennen lernen durfte. Gehe hin nun zu deinen Brüdern und Schwestern. Auf Wiedersehen in einer anderen Welt.»


Diese Worte begleiten noch immer den Stuhl, der nun im Reich der Stühle über andere Stühle im Reich der Benutzer und Benutzerinnen Wache hält.
 

Kurzgeschichten

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