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Der Psychotherapeut

 

Prolog

 

Es war wieder einmal einer jener bitter kalten Januartage, die Raoul schon während Jahren begleitet hatten. Er sass am Fenster und schaute durch die leicht schmutzigen Scheiben hinaus. Der Schnee lag noch in geringen Mengen auf der Wiese, die sich da und dort in kleinen Flächen durchgekämpft hatte und sich bereits wieder zeigen wollte. Die Bäume wirkten wie skelettartige Riesen, die durch die Kälte erstarrt  wahllos herumstanden. Der Himmel kannte kaum Erbarmen und war gefüllt mit grauen Wolken, manchmal zeigte sich der winterblaue Himmel, wie wenn er zeigen wollte, dass es ihn auch noch gibt. Es war erst Nachmittag, aber er hatte den Eindruck, die Dunkelheit des Abends wolle sich mit aller Macht durchsetzen und die noch vorhandenen Lichter verbannen. Irgendwie wurde er plötzlich von einem Gefühl der Besorgnis überrollt, er konnte aber nicht entdecken, was ihn so gestimmt hatte. Raoul sass vor seinem Laptop, der ihn in letzter Zeit immer wieder zum Schreiben aufforderte und schrieb die ersten Zeilen eines Romans, dessen Titel ihm noch nicht bewusst war. Die Zeilen flossen nicht aus den Händen, jeder einzelne Satz bereitete ihm grosse Mühe. Er hatte sich aber zu diesem Wagnis hinbewegt und wollte und konnte sich nicht mehr abwenden. Das Gefühl von Besorgnis beschlich ihn immer stärker, so dass er sich zurücklehnte und seinen Gedanken nachging, die in seinem geistigen Auge sich langsam in Bilder verwandelten und an Orte führten, die er lange vergessen glaubte.


Noch aber konnte er die vielen Gedanken, Bilder und Gefühle nicht in eine Ordnung bringen, die es ihm erlaubt hätte, Fluss in sein Schreiben zu bringen. Er brachte nicht die notwendige Ruhe auf, auf das eine das andere folgen zu lassen, zu sehr schienen ihn all die Eindrücke durcheinander zu bringen. All die vielen Erfahrungen der letzten Jahre standen plötzlich vor seinem Bewusstsein, er konnte sie nicht wegzaubern. Es war ihm plötzlich klar, dass die Besorgnis mit dem Wagnis zu tun hatte, in eine Geschichte einzutauchen, die ihn bis heute unerbittlich begleitet hatte.


Zurückgelehnt in seinem Klappstuhl, der in seinem Arbeitszimmer zu einem ständigen Begleiter werden sollte, zogen Bilder vorbei, die noch einmal all das Erlebte so nahe brachten, dass er glaubte, er durchlebe es erstmals. Unsere Geschichte beginnt vor ungefähr zehn Jahren.

Kapitel 1 Bittere Liebesträume

 

Raoul hatte sein letztes Gespräch mit einem seiner vielen Klienten beendet und war müde ob der vielen Eindrücke, die seine Gegenüber ihm unermüdlich entgegen geworfen hatten. Er hatte das Gefühl, alles Negative dieser Welt in sich aufgesogen zu haben und hätte viel dafür gegeben, wenn dieser Ballast seinen Körper und Geist schnell wieder verlassen hätte. Er wusste aber nur zu gut, dass er mit diesen Eindrücken leben musste, auch wenn sie nur zu oft unerträglich waren. Er war ausserordentlich müde und musste sich gegen seine Schläfrigkeit stemmen, wohl wissend, dass er noch Berichte über die Gespräche verfassen musste. So setzte er sich an seinen Schreibplatz, nachdem er sich ausführlich gestreckt und gedehnt hatte und hoffte, dass der ermüdete Geist dem Computer noch Wesentliches zur Speise vorlegen konnte.

 

Diese Arbeit versuchte er so schnell als möglich vorwärts zu treiben, denn er wartete sehnlichst auf seinen Feierabend und die damit verbundenen Freiheiten. Er hoffte, dass er dann nicht wieder auf die Bedürfnisse anderer einsteigen musste, sondern sich ganz auf seine eigenen konzentrieren konnte. Die Berichte fasste er dann trotz spürbarer Leere schnell zusammen. Er speicherte wie gewohnt alles ab und war danach etwas besserer Laune, da er so einen Teil seiner Gedanken aus seinem strapazierten Kopf auf die Festplatte des Computers verbannt hatte. Er fühlte sich plötzlich befreiter und gab sich einen inneren Ruck, den Ort der seelischen Entschlackung zu verlassen. Ein letzter Gedanke an seine Klienten durchblitzte seinen Geist: Was machen diese Menschen mit ihren Problemen heute Abend und in dieser Nacht? – Dann aber löschte auch der letzte Gedanke an die während des heutigen Tages gewälzten Probleme aus. Er orientierte sich nach draussen und schloss eiligst die Türe hinter sich ab, wie wenn er befürchtete, dass noch irgend ein Seelenkunde seinem eifrigen Weggehen ein vorübergehendes Ende bereiten könnte. Kaum draussen empfing ihn ein kalter Winterabend mit seinem eisigen Wind, aber auch dem prachtvollen sternenübersäten Himmel und einem vollbackigen Mond, der die Landschaft hell erleuchtete.

 

Raoul schritt schnell zu seinem altgedienten Peugeot, welcher einsam auf ihn zu warten schien. Er öffnete die Autotüre, setzte sich auf den unterkühlten Sitz und startete den Motor, der ohne zu zögern seinem Meister gehorchen wollte. Raoul entsicherte die Handbremse und fuhr so schnell es ihm erlaubt war, von Täufelen in Richtung Stadt weg. Er wollte dort die Gelegenheit nutzen, die wohlverdiente Ruhe mit einem Spaziergang durch die Altstadt mit ihren hellerleuchteten Schaufenstern zu geniessen. Es war Abendverkauf, wie jeden Donnerstag. Raoul konnte den Eindruck nicht loswerden, dass die vorbeieilenden Menschen das am Tage Verpasste noch schnell nachholen wollten und sich dem Angebot, welches sich ihnen in vielen Farben und Formen aufdrängte, nicht widerstehen konnten. Dieses wenig beschauliche Treiben in den Gassen, welches manchmal durch beschwingte Musik der Strassenmusikanten durchbrochen wurde, veranlasste Raoul, sich in schweigsamere Gassen zu verkriechen, wo er seine Sinne von all den Eindrücken, die tagtäglich auf ihn niederprasselten, befreien konnte.

 

Er genoss die Stille dieser kleinen Strässchen, wo sich die meisten Menschen nur ungern hinwandten. Sie befürchteten wohl, von unangenehmen Gestalten überfallen zu werden. Raoul spürte selbst diese unbestimmte Angst vor dem Unbekannten, konzentrierte sich aber auf die Stille und genoss sie in vollen Zügen. Er blieb nur für kurze Zeit in der Stadt, dann wollte er nach Hause fahren, obwohl es ihm nicht nach Familienkontakt zumute war. Doch der Hunger machte sich mit einem heftigen Knurren bemerkbar, so war der Entscheid schnell gefällt und er ging zu seinem Auto zurück, welches er in der Nähe des Bahnhofs parkiert hatte. Dort angekommen bemerkte er eine heftig diskutierende Menschenmenge, in deren Mitte sich offensichtlich zwei Gestalten unbekannter Herkunft handfest die Meinung sagten. Er ekelte sich vor diesem Treiben, obwohl ihm in seiner täglichen Arbeit solche Erlebnisse oft erzählt wurden. Aber der Anblick machte ihm deutlich mehr zu schaffen. Er spürte in sich Wut und Angst aufkommen. Nur schnell von hier weg, dachte er und stieg eiligst in seinen Wagen und fuhr weg. Im Rückspiegel konnte er noch erkennen, wie die Menschenansammlung sich auflöste, da die Hüter der Ordnung die Streitenden trennten und sie in ihrem Wagen auf den Posten  mitnahmen. Raoul war froh, endlich ausserhalb der Stadt zu sein. Er hasste und liebte diese Stadt gleichermassen heftig.

 

Er fuhr gegen Angelberg, einer grösseren Gemeinde nördlich der Stadt, wo er seit  einigen Jahren mit seiner Familie lebte. Allerdings hatte er kaum Beziehungen aufbauen können, zu sehr war er durch seine Tätigkeit als Seelenanwalt und seine Trainertätigkeit beim städtischen Fussballclub gebunden. Er hatte kaum Freizeit, diese verbrachte er meistens mit Ausruhen und Nachdenken. Das Nachdenken hatte in letzter Zeit massiv zugenommen, da er sich ernsthaft fragte, ob er den bisher gegangenen Weg weitergehen wollte. Diese Frage verfolgte ihn und liess ihn nicht mehr los, denn sie wollte unbedingt beantwortet werden. Doch heute Abend hatte er keine Lust mehr, sich von dieser quälenden Frage irritieren zu lassen. Nachdem er zuhause angekommen war, setzte er sich schnell an den Tisch, nahm das Abendbrot ein und redete mit seinen Söhnen. Sie waren alle mit vielen Fragen, er konnte und wollte aber nicht alle beantworten. Er spürte die Spannung im Raum, bemerkte den Rückzug seiner Frau, die offensichtlich und nicht zum ersten Mal durch die Ansprüche der Kinder überfordert war. Raoul hatte aber keine Lust, die anstehenden Spannungen aufzulösen. Er versuchte die Stimmung aufzulockern, indem er locker daherplauderte. Die Jungs genossen dies sichtlich, seine Frau aber fühlte sich ausgeschlossen und zog sich ohne Worte in ihre Küchenarbeit zurück. Irgendwann zur vorgerückten Stunde entschloss er sich, den Tag zu beschliessen und sich ins Bett zu legen.

 

Er war sich sicher, dass sich seine Frau nicht zu ihm gesellen wird. Er war sich inzwischen gewohnt, alleine einzuschlafen, die langen Jahre dieser Beziehung hatten deutliche Abnützungsspuren hinterlassen. Früher kam es hie und da noch zu einer intimen Begegnung, heute war es schon beachtenswert, wenn seine Frau ihm ihre verbale Aufwartung machte. Er hatte sich nie an diese Beziehungsform gewöhnen können und vermisste die Intimität einer Beziehung sehr. Die mangelnde körperliche Nähe – er schlief kaum mehr mit seiner Frau, weil sie sich ihm immer mehr entzog – hinterliess in Raoul eine grosse Einsamkeit und Trauer. Er spürte sie auch in dieser Nacht wieder. Da nützte es wenig, dass seine Frau sich zu ihm ins Bett gesellte und neben ihm einschlief, wie wenn es ihn nicht gäbe. Er dachte darüber nach, wie es weitergehen soll und liess Bilder in sich aufsteigen, die seinen Bedürfnissen und innersten Wünschen Platz gaben. Erlebnisse mit anderen Frauen, denen er vor Monaten begegnet war und die er in seinem ungestümen Bedürfnis vernascht hatte, durchliefen seine Phantasiewelt. Er konnte so in einen entspannten Schlaf hinübergleiten, irgendwo entstand in seinem Kopf die Idee, eine Frau kennen lernen zu wollen. Dieser Gedanke blieb in seinem Gedächtnis hängen und beschloss den heutigen Tag.

Irgendwann in der Nacht wurde er wach, ein unangenehmer Traum, dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Schweissüberströmt und mit heftigem Atem lag er hellwach im Bett und musste sich erst einmal beruhigen und seine Sinne unter Kontrolle bringen. Es war nicht das erste Mal, dass er in der Nacht von schweren Träumen geweckt wurde, in letzter Zeit hatte sich dieses Ereignis verstärkt gezeigt. Irgendetwas musste ihn so stark beschäftigen, dass es ihn selbst in der Nacht nicht in Ruhe liess. Angestrengt versuchte er sich an den Traum zu erinnern, doch er konnte kein Bild in seine Gedanken zurückholen. Er versuchte sich zu entspannen und nach schier endlos scheinenden Minuten glitt er in einen schweren Schlaf. Diese Erfahrungen machten ihm vermehrt Angst, sein Schlaf leidete sehr darunter. Er konnte oft lange nicht einschlafen, weil er sich vor den nächtlichen Albträumen fürchtete. Raoul konnte auch mit niemanden darüber sprechen, weil er kein Vertrauen in das Verständnis der anderen hatte. So blieb er mit seinen Nöten allein, wie er sich auch sonst oft alleine fühlte. Manchmal glaubte er, seine einzigen Kontakte hätte er zu seinen Patienten – was ihn sehr erschreckte – denn diese professionellen Beziehungen langweilten ihn manchmal über alle Massen.

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